Woody Allen: Mit diesem Film könnte der 88-Jährige eigentlich aufhören - WELT (2024)

Mit „Ein Glücksfall“ feiert der 88-jährige Filmemacher Jubiläum. Es ist sein 50. Film. Eine Geschichte über Glück und Eifersucht und Verbrechen. Ein klassischer Woody Allen. Hinterher möchte man vor allem eins tun.

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Vielleicht muss man sich das Wesen und das späte Werk des Woody Allen vorstellen wie jenes Stück Musik, mit dem man – weil man es nicht loswird, weil es sich festgesetzt hat in Kopf und Ohr – sanft pfeifend aus dem Kino kommt, nachdem man Allens fünfzigsten und vielleicht letzten Film gesehen hat. „Ein Glücksfall“ heißt der. Das Stück Musik, das da schwerelos durch diese Gesellschaftskrimikomödie schlendert, heißt „Cantaloupe Island“.

Herbie Hancock hat es 1964 geschrieben, in dem Jahr, in dem Woody Allen das erste Mal in Paris ankam und sich in die Stadt an der Seine schockverliebte und in den Jazz, der da grade blühte, und endgültig auch in die Filme von Truffaut und Godard und Malle. Es kommt mit ungefähr so vielen Akkorden (f-Moll, Des-Dur, d-Moll) aus wie Allen in seinem Spätwerk mit Themen (Eifersucht, Zufall, Verbrechen).

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Es ist – für einen 24-Jährigen, der Hancock 1964 war – von der gleichen altersweisen Wurschtigkeit gegenüber seiner damals noch dem Funk eher fernen Gegenwart wie der des 88-jährigen Woody Allen gegenüber den Debatten um die Cancelung seines Werkes und den Aufrufen zum Boykott der Zusammenarbeit mit ihm.

Seit mehr als drei Jahrzehnten lebt Allen mit den Vorwürfen seiner Ex-Frau Mia Farrow, er habe seine damals siebenjährige Adoptivtochter Dylan missbraucht. Was nicht bewiesen ist. Worüber es noch kein Gerichtsurteil gibt. Was immer noch dazu führt, dass seine Filme – wie „Rifkins Festival“, sein wirklich fürchterlicher 49. Film – in den Kinos Zuschauerzahlen erreichen, die sich ungefähr auf der Höhe von zwölfstündigen Dokumentarfilmen über mongolische Jurtenlyriker des frühen 20. Jahrhunderts befinden.

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Woody Allen hat – auch weil er schon zu Beginn der Debatte das Renteneintrittsalter von deutschen Kriminalbeamten längst hinter sich hatte – während all der Jahre eine geradezu Hancocksche Wurschtigkeit entwickelt hat. Gecancelt werden, hat er gerade wieder gesagt, sei doch gar nicht so schlecht. Wer wolle schon zur gegenwärtigen Kultur in den USA dazu gehören.

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Und inzwischen scheint auch die Debatte, der wie allen Debatten der jüngsten Zeit nichts Menschliches (vor allem kein menschlicher Abgrund) fremd ist, eine ähnliche Gleichmut erreicht und sich – sie ist ja nicht mehr die Jüngste – einem der schönsten menschlichen Zustände angenähert zu haben – der Altersmilde. Um nicht von Altersweisheit zu reden.

Herbie Hancocks "Cantaloupe Island"

In Venedig, wo „Coup de Chance“, so der Originaltitel von Allens französischem Schwanengesang, gezeigt wurde, zogen – so berichten es Menschen, die dabei waren – zwanzig Frauen aus und – wie man so sagt – blank und demonstrierten geradezu ritualhaft dafür, dass „Ein Glücksfall“ keinen Löwen bekommen dürfe, was schon deswegen blödsinnig war, weil Allens Film gar nicht im Wettbewerb lief.

Er hätte – hinterher ist man ja gerade als Demonstrant immer schlauer, naja meistens – auch keinen bekommen. Weil die fatale Geschichte von Fanny und Alain und Jean zumindest in einem auf gar keinen Fall Hancocks „Cantaloupe Island“ gleicht. Eine Legende wird sie nicht.

Jetzt müssen wir zur nächsten Analogie kommen, die uns Woody Allen hinstellt, um uns zu helfen, sein spätes Werk mit Dingen zu vergleichen, die er in „Coup de Chance“ wie beiläufig platziert hat. Man muss sich das Spätwerk des Woody Allen nämlich vorstellen wie jene Spielzeugeisenbahn, die Jeans ganzer Stolz ist (und derart gigantische Ausmaße hat, dass Horst Seehofer in seinem Keller blass vor Neid würde).

Woody Allen: Mit diesem Film könnte der 88-Jährige eigentlich aufhören - WELT (3)

Woody Allens Spätwerk ist – sieht man mal von ein paar Peinlichkeiten wie „Rifkins Festival“ ab – durchaus ein Meisterwerk der Feinmechanik. Einmal in Gang gesetzt, läuft es wie ein Uhrwerk mit immer den gleichen eingebauten Komplikationen und mit verblüffender Konsequenz ab.

Jetzt haben wir schon ziemlich viel von Jean und Fanny und Alain gesprochen. Die Geschichte geht so: Fanny ist verheiratet mit Jean. Sie ist jung und schön, arbeitet in einem Auktionshaus. Was sie nicht müsste. Jean ist nämlich fabelhaft reich, weil er reiche Leute noch reicher macht, was er wiederum – es gibt Gerüchte – durchaus mit nicht ganz sauberen Mitteln und ziemlich skrupellos macht. Sein ehemaliger Partner soll das mit seinem Leben bezahlt haben.

Aber das will Fanny alles gar nicht so genau wissen. Sie kommt sich wie eine Trophäe vor, liest viel schöne Literatur auf echtem Papier, behauptet, in ihrer Seele Rebellin und also unabhängig geblieben zu sein und langweilt sich herzlich in der Gesellschaft der französischen Upperclass. Da läuft ihr eines Tages Alain über den Weg, mit dem ist sie in New York auf die gleiche (französische) Schule gegangen.

Und Miss Marple ist auch dabei

Alain, der jetzt als Schriftsteller in einer Mansarden-Wohnung lebt, die man gleich mit dem „Armer-Poet-Preis“ auszeichnen möchte, war sterblich in sie verliebt, sagt er. Sie zitieren sich auf offener Straße Jacques Prevert. Sie wischt sich ständig nervös die Haare aus dem Gesicht. Er wirbelt ständig mit den Armen die warme Luft auf.

Es geschieht, was geschehen muss. Alain und Fanny kommen zusammen. Jean kommt dahinter. Alain verschwindet. Und Fannys Mutter – eigentlich Jeans größter Fan, aber auch eine notorische Leserin von Mord- und Totschlaggeschichten – entdeckt die Miss Marple in sich.

Es ist Herbst im Jardin du Luxembourg. Woody Allens Figuren kommen derart klischiert und papieren aus seiner Olympia-Schreibmaschine von 1954 auf die Leinwand wie Nymphenstatuen aus einer Gipserei an der Seine zwischen die Bäume (Jean trägt den Cordanzug von Günter Grass auf, Fanny, die Ex-Existenzialistin, hat immer noch eine fatale Neigung zu Rollkragenpullis, inzwischen sind sie weiß und rot und nicht mehr schwarz).

Die Reichen kommen schlecht weg, die Männer auch, die Frauen sind anbetungswürdig. Der sozialen Wirklichkeit, der wirklichen Gegenwart steht „Ein Glücksfall“ mit einer widerborstigen Wurschtigkeit gegenüber.

Woody Allen macht sein Ding, lässt seine Märklin-Eisenbahn immer neue Kreise drehen. Das kann man dann im Sommer dufte auf der Freiluftleinwand schauen. Und hinterher wünscht man Woody Allen einen schönen Ruhestand und pfeift – verfolgt von blutrünstigen Insekten – Herbie Hancock. Keine ganz schlechte Perspektive.

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