Der neue Machtfaktor (2024)

Zoe Dickhaut wusste früh, was sie beruflich aus ihrem Leben machen will. Mit13Jahren absolvierte die Heidelbergerin ein Schülerpraktikum in einem Labor beiBASFin Ludwigshafen. Nach dem Abi begann sie dort ihre Ausbildung zur Chemielaborantin. Inzwischen ist sie beim Konzern fest angestellt, engagiert sich in der Jugend- und Auszubildendenvertretung(JAV)und in der IGBCE, bei den Jusos und der sozialistischenJugend.

Ebenfalls sehr früh wussteDickhautaber auch, was sie in ihrem Beruf keinesfalls will: ständig verfügbar sein. Als kurz vor Ausbildungsende unterschiedliche Labore im Unternehmen darum warben, sie zu übernehmen, klingelte eines Abends gegen20 Uhrihr Mobiltelefon. Sie war im Feierabend, hat den Anruf daher nicht entgegengenommen. Eine Mitarbeiterin von einem der Labore, die Dickhaut gern beschäftigt hätten, sprach auf die Mailbox. „Für mich war klar, dass ich dort nicht arbeiten will“, sagt die 23-Jährige. „Wer um diese Uhrzeit anruft, macht das vielleicht auch öfter. Das kam für mich nichtinfrage.“

So viele offene Stellen wie nie

Ihre Reaktion habe intern für Debatten gesorgt. Sollte eine Auszubildende nicht froh sein, dass sich der Arbeitgeber um sie bemüht?Dickhautaber geht es um mehr – um das Hinterfragen einer Praxis, die viele Arbeitgeber als selbstverständlich ansehen. „Wir müssen eine klare Linie ziehen und diese auch durchsetzen. So wie früher darf es nicht mehrlaufen.“

Die Arbeitswelt ändert sich fundamental. Immer öfter sind es die Beschäftigten, die sich den Arbeitgeber aussuchen können – und nicht umgekehrt. Aktuell sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt so viele offene Stellen zu vergeben wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Zuletzt habe es fast zwei Millionen nicht besetzte Arbeitsplätze gegeben, berichtete unlängst das Institut für Arbeitsmarkt- undBerufsforschung.

Die neue Generation ist in einer komfortableren Situation als ihre Mütter und Väter – und hat andere Vorstellungen von Beruf, Freizeit und Familie. Viele haben als Kinder bei den Eltern beobachtet, dass Arbeit das Leben dominiert. Starke Bindung an ein Unternehmen, Überstunden, Sonderschichten: Dieses Lebensmodell früherer Generationen kritisieren wollen sie nicht, betonen junge Leute, denn es komme nun mal aus einer anderen Zeit. Aber man solle eben auch Verständnis dafür aufbringen, dass sie es nun anders machen wollen und auch können.

Die neuen Arbeitskräfte verlangen mehr Mitsprache und Flexibilität bei den Arbeitszeiten, größere Spielräume bei der Ausgestaltung der Work-Life-Balance und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten. Das Streben nach Geld und Karriere steht nicht im Vordergrund, sondern das Bedürfnis, Sinnstiftendes zu tun. Auch eine bedingungslose Loyalität zu einem Arbeitgeber gibt es nicht mehr, stattdessen den Trend, beim sogenannten Jobhopping immer wieder neue Herausforderungenzu suchen.

Sinnbildlich dafür sind Begriffe wie New Work oder Quiet Quitting. Letzteres schwappte aus den USA nach Europa, verbreitete sich in sozialen Netzwerken. Es meint das geräuschlose und pünktliche Verlassen des Arbeitsplatzes nach der vertraglichen Arbeitszeit. Kein Entgegennehmen von beruflichen Anrufen mehr. Keine Reaktion auf Nachrichten in den Job-Whatsapp-Gruppen. Das Zukunftsinstitut in Frankfurtam Main, das Veränderungen der Arbeitswelt aufspürt, schreibt von einer Zeit des Übergangs. Die kapitalistisch geprägten Vorstellungen von Karriere und Erfolg treten demnach in den Hintergrund. Stattdessen geht es um Sinnhaftigkeit, Gestaltungsmöglichkeiten und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.„Dierationale Leistungsgesellschaft mit Überstunden, Konkurrenzkampf und Präsenzzeiten hat sich als nicht zukunftsfähig erwiesen“, so dieForschenden.

Philipp Hering, Leiter der Abteilung Junge Generation/Ausbildung bei der IGBCE

Die neue Generation von Beschäftigten hat sehr wohl Bock auf Arbeit, sie hat nur keinen Bock auf (Selbst-)Ausbeutung.

Keinen Bock auf Selbstausbeutung

Diese Erkenntnis hat offensichtlich noch nicht jede*n ereilt. Den Arbeitgebern fällt als Mittel gegen den Fachkräftemangel anscheinend nur längeres Arbeiten ein – sowohl mit Blick auf die Wochenarbeitszeit als auch mit Blick auf die Lebensarbeitszeit.„Wirbrauchen mehr Bock auf Arbeit“, fordert der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände(BDA),SteffenKampeter. „Dabei hat er offenbar etwas missverstanden: Die neue Generation von Beschäftigten hat sehr wohl Bock auf Arbeit, sie hat nur keinen Bock auf (Selbst-)Ausbeutung“, sagtPhilippHering, Leiter der Abteilung Junge Generation/Ausbildung beider IGBCE.

Zoe Dickhaut berichtet von einer Podiumsdiskussion, bei der eine Personalchefin erzählte, wie sie sich als Sekretärin in die Geschäftsleitung hocharbeitete: mit Disziplin und Überstunden. Genau das wollten die Jüngeren nicht mehr: „Beschäftigte sollten nicht mehr befördert werden, nur weil sie eine größere Bereitschaft als andere haben, sich selbst auszubeuten. Sondern allein auf Grundlage ihrer Qualifikation. Nur so schaffen wir beim AuswahlprozessGerechtigkeit.“

Die Zeiten für einen tiefgreifenden Wandel sind günstig. Der Fachkräftemangel zwingt Arbeitgeber, sich für die viel zu wenigen Bewerber*innen so hübsch wie möglich zu machen. Selbst Schwergewichte wieBayerundBASFhaben Probleme, Ausbildungsstellen zu besetzen. In den Personalabteilungen tobt der„War forTalents“. Führungskräfte sind immer schwieriger zu finden, weil mehr Stress dem Ziel nach Lebenszufriedenheitentgegensteht.

Eveline Wengler, einst Betriebsrätin bei der Bayer AG und Expertin für den AT-Bereich

Der neue Machtfaktor (2)

Die Sicherheit unter dem Tarifschirm, klar geregelte Arbeitszeiten sind vielen mehr wert als ein höherer Lohn.

Selbst die Aussicht auf bessere Bezahlung außerhalb des Tarifs sei für viele kein Anreiz mehr, sagtEvelineWengler, einst Betriebsrätin bei derBayer AGund Expertin für den AT-Bereich. „Die Sicherheit unter dem Tarifschirm, klar geregelte Arbeitszeiten sind vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr wert als ein höherer Lohn.“ Wer außertariflich beschäftigt wird, genieße zwar Vertrauensarbeitszeit, aber die sei das Einfallstor zur Selbstausbeutung, da viele Arbeitgeber als Gegenleistung erwarteten, dass im Stillen Überstunden geleistet würden.„Diemeisten AT-Beschäftigten trauen sich nicht, das zu kommunizieren, aus Angst vor Konsequenzen. Deshalb entscheiden sich Beschäftige öfter, trotz finanziell verlockender Angebote im Tarif zu bleiben.“ So avanciert der Tarifvertrag zu einem wichtigen Instrument, um Akademiker*innen ans Unternehmenzu binden.

Arbeitgeber müssen also etwas bieten, um Beschäftigte von sich zu überzeugen. „Homeoffice und flexible Arbeitszeiten sind wichtig, sonst ist man als Arbeitgeber raus“, sagt Luca Schneider.Der24-jährige Chemielaborant bei derBayer AGin Leverkusen hat als JAV beobachtet, was seine jungen Kolleg*innen erwarten. Manchen sei die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit sehr wichtig. Für sie gebe es im Job nicht nur ein Bergauf, sondern auch die Entwicklung zur Seite. Andere hätten einen Hang zumWorkaholic, sie wollen sich schnell weiterbilden, rasch aufsteigen, viel Geld verdienen. Allerdings wie Luca Schneider mit dem Ziel, vorzeitig in den Ruhestand gehen zu können. „Unsere Generation will nichtbis 70arbeiten, wie sich der Staat das vielleicht wünscht“,sagt er.

Ohne Ausbildung keine Zukunft

Ausbildungen bieten jedes Jahr Tausenden von jungen Menschen einen Weg in Gute Arbeit.Aber nicht nur junge Menschen sind auf Ausbildungen angewiesen. Dieses Thema geht jede*n in unseren Branchen etwas an – egal in welchem Alter und in welcher Position:Denn auch die Betriebe brauchen dringend mehr qualifizierte Fachkräfte.

Sparen fürs Sabbatical

Auch deshalb hat Schneider bei Bayer ein Langzeitkonto, in das er und der Arbeitgeber einen Teil des Gehalts einzahlen.DasErsparte kann sichSchneiderzur Rente auszahlen lassen – oder um irgendwann auf eine Viertagewoche zu reduzieren oder ein Sabbatical zu finanzieren.

Ganz freiwillig ist das Entgegenkommen nicht. Sowohl der Demografiefonds, der Langzeitkonten möglich macht, als auch das Zukunftskonto, auf dem etwa für Sabbaticals „gespart“ werden kann, hat die IGBCE in Tarifverhandlungen für die chemische Industrie erstritten. „Letztlich war es unsere Idee, die wir in Verhandlungen durchsetzen konnten“, betontHering. „Gute Arbeitsplätze werden nicht von den Unternehmen geschaffen, sondern weil die Gewerkschaften sie dazu bringen.“Heringerinnert sich an eine Debatte bei der Bundesjugendkonferenz der IGBCE imMai 2021. Dort habe sich gezeigt, worum es im Grundsatz gehe: um eine neue Definition des Arbeitsbegriffs. Früher diente allein die Lohnarbeit dem Zweck der Selbstdefinition. Die Pflege etwa der kranken Mutter hatte aus Sicht der Arbeitgeber möglichst geräuschlos nebenbei zu erfolgen. Heute sei der Druck auf die Unternehmen gestiegen, Lösungen anzubieten. „Carearbeit und Ehrenamt müssen als gesellschaftliche Leistung anerkanntwerden.“

Kritisch siehtHeringdie Tendenz von Arbeitgebern hin zu einer Glorifizierung der mobilen Arbeit, um die Kosten für Büros zu senken. Die Pandemie habe gezeigt, dass der Plausch auf dem Flur durch Videokonferenzen nicht ersetzt werden könne. „Homeoffice darf keine Verpflichtung sein, sondernAngebot.“

In der Produktion ist es ohnehin nicht möglich. Und die Bereitschaft, im Schichtdienst zu arbeiten, ist bei Jüngeren gesunken. Zu gering ist der Spielraum, sich die Arbeitszeit selbst einzuteilen.FrankGottselig, Konzernbetriebsratsvorsitzender beim HygienepapierherstellerEssity, sagt, früher habe es eine klare Lebensplanung gegeben: Geld verdienen, Baum pflanzen, Haus bauen. Wochenendschichten seien wegen der Zuschläge und der Steuerfreibeträge begehrt gewesen. Heute sei das zusätzliche Geld für viele Jüngere kein Lockmittel mehr, da sie am Wochenende lieber mit Freund*innen unterwegs sein wollten. „Die Arbeit dient dazu, um die Freizeit und das Leben zu finanzieren“, sagtGottselig.

Das Essity-Werk in Neuss hat deshalb in einem Teilbereich von einem Vierschichtsystem auf fünf Schichten umgestellt.Nunarbeiten die Mitarbeitenden zweimal früh, zweimal spät und zweimal nachts und haben dann zweimal vier und einmal fünf Tage frei. Ein Vorteil sei, dass statt, wie im Tarifvertrag vorgesehen,38Stunden nur33,6Stunden gearbeitet wird, sagt Gottselig. Die Differenz wird meist für Schulungen, Training und Teamsitzungenverwendet.

Generation Feierabend? Auf ein Wort … mit Philipp Hering, IGBCE-Abteilungsleiter Junge Generation/Ausbildung

Hebel für Beschäftigte

Die neue Lebensphilosophie der Jungen kommt bei den Älteren nicht immer gut an. Der 24-jährigeInancKabadayi, Chemikant beiCovestroin Leverkusen und im örtlichen IGBCE-Jugendausschuss, sagt, ältere Kollegen würden sich schon mal beklagen, dass sich die Jungen zu schnell krankmeldeten. „Sie werfen uns vor, Weicheier zu sein, weil sie sogar mit einem verletzten Bein kommen. Das ärgert uns schon“, sagtKabadayi. „Wenn ich aber krank zur Arbeit komme, bringt das nichts. Es steigt nur das Risiko, Fehler zu machen. Und danken würde mir auchniemand.“

Der Prozess der Umwälzungen steht noch am Anfang, glaubt Zoe Dickhaut. Der Mangel an Fachkräften gebe den jungen Arbeitnehmenden einen Hebel in die Hand. „Das ist ein Druckmittel. Unternehmen sind nicht mehr in der Position, sich unter100Leuten die besten auszusuchen.“DieGelegenheit, Ansprüche durchzusetzen, sei laut Dickhaut günstig: „Vielen Bewerber*innen aus der Schule ist gar nicht bewusst, welche Macht siehaben.“

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